Hanau: „Alle sollen ohne Angst leben können“
Bild rechts: Durch den Anschlag hat Familie Hashemi ihren lieben Sohn und Bruder Said Nesar verloren. Der zwei Jahre ältere Said Etris überlebte knapp. © Michael Schick
Hanau: „Alle sollen ohne Angst leben können“
Durch den Anschlag hat Familie Hashemi ihren lieben Sohn und Bruder Said Nesar verloren. Der zwei Jahre ältere Said Etris überlebte knapp. Sie trauern – und kämpfen für Aufklärung.
Jeden Tag kam Familie Hashemi an ihrem Tisch zusammen. Die Eltern und ihre fünf Kinder aßen in ihrer Wohnung in Kesselstadt gemeinsam, erzählten einander von ihren Erlebnissen und Neuigkeiten, von ihren Hoffnungen, Sorgen und Plänen. Sie genossen dieses Ritual und lachten oft. Es gab ihnen Halt, war Ausdruck ihrer Verbundenheit, die im Gespräch nach wie vor spürbar ist. „Jeder ging seinen Beschäftigungen nach, aber wir sind immer wieder zusammengekommen, um miteinander zu essen“, erzählt Said Etris.
Seit sechs Monaten haben sie nicht mehr am Tisch gesessen und gelacht. Für eine Familie, für die das zu jedem Tag gehört, eine Ewigkeit. Es geht nicht, weil da diese „große Lücke“ ist, erklärt Saida Hashemi. „Mein Bruder Said Nesar fehlt so sehr.“
Der Grund liegt sechs Monate zurück, aber es ist, sagt Saida, „als wäre es gestern passiert. Die Nacht geht uns nicht aus dem Kopf“. Mit Tränen in den Augen sagt Mutter Najiba Hashemi: „Wir sind im Inneren tot.“ Für Saida steht fest: „Unsere Trauer wird nicht vergehen; wir können nur lernen, damit umzugehen.“
Said Nesar Hashemi wurde während des rassistischen Anschlags am 19. Februar ermordet, mit 21 Jahren. Auch sein Bruder Said Etris wurde an jenem Abend von den Schüssen im „Arena Bar & Café“ getroffen. Beide hatten sich dort mit Freunden verabredet. Said Etris überlebte knapp und schwer verletzt.
Der Schock über die Nachricht von dem Attentat. Das Bangen um die Söhne. Die Erleichterung darüber, dass Said Etris am Leben ist und die Trauer um Said Nesar – was Familie Hashemi erleidet, lässt sich nicht ansatzweise mit Worten beschreiben. Genauso wenig, was Said Etris erlebte.
Durch den Anschlag hat Familie Hashemi ihren lieben Sohn und Bruder Said Nesar verloren. © Michael Schick
„Es geht“, entgegnet er auf die Frage, wie er sich fühlt, tapfer. Eine Schulter sei beeinträchtigt, und am Hals habe er ein Taubheitsgefühl. Nach mehreren Wochen auf der Intensivstation sollte er länger im Krankenhaus bleiben. Glücklicherweise heilten die Verletzungen schneller als erwartet, so dass die Ärzte keine großen Bedenken hatten, als er am 3. März auf eigenen Wunsch entlassen wurde. „Ich wollte unbedingt bei der Gedenkfeier am 4. März dabei sein. Das war mein Ziel. Es vergeht keine Minute, in der ich nicht an Said Nesar denke.“ Sein Bruder ist ein Teil von ihm, sie haben sich von klein auf das Zimmer geteilt.
Das Treffen mit Familie Hashemi findet im „Laden“ der Initiative 19. Februar statt, unweit des ersten Tatorts am Heumarkt in der Innenstadt. Über den gemütlichen Sitzecken schmücken viele Fotos der ermordeten Hanauer, Artikel über sie und Plakate der Initiative die Wände, darunter die Ankündigung der großen Demonstration am 22. August – mit den zentralen Forderungen, für die sich die Angehörigen und andere Hanauer einsetzen: „Erinnerung – Gerechtigkeit – Aufklärung – Konsequenzen.“
Die Initiative bedeutet den Hashemis viel. „Wir verstehen uns gut, unterstützen uns gegenseitig“, sagt Vater Mir Salam Hashemi. Und sie kämpfen gemeinsam: „Es ist sehr wichtig, dass die Tat restlos aufgeklärt, Fehler benannt und beseitigt werden, damit so etwas nicht wieder passiert, möglicherweise in noch größerem Ausmaß“, betont Saida. Rechtsextreme Gewalttaten häuften sich, Konsequenzen würden kaum gezogen. Said Etris fordert, „dass die Zuständigen Versäumnisse zugeben und Verantwortung übernehmen. Ein Verschleiern und Totschweigen wie beim NSU lassen wir nicht zu“.
Die Taten seien nicht zufällig passiert, Tobias R. „war kein unbeschriebenes Blatt“. Wie anderen Hinterbliebenen drängen sich den Hashemis viele Fragen auf, auf die sie bislang keine richtige Antwort bekamen, etwa: Warum reagierten weder die Staatsanwaltschaft Hanau noch der Generalbundesanwalt auf die dritte und „finale“ Anzeige von Tobias R., wie er darin schrieb? Warum bekam er eine Waffenerlaubnis, obwohl eine psychische Erkrankung diagnostiziert worden war? Warum wurde die Erlaubnis – ohne eine Prüfung, die den Namen verdient – verlängert, obwohl Verfahren gegen R. liefen? Warum wurden die Sicherheitsbehörden nicht auf die Webseite aufmerksam, auf der er die Tat ankündigte? Während keine Behörde einen Fehler einräumt, alle ein Versagen bestreiten, liegen mittlerweile viele Hinweise darauf vor, wie die Angehörigen kritisieren. Saida hielt während des Gedenkens eine bewegende, auch international viel beachtete Rede. „Am 19.2.2020 schien die Welt in Hanau stillzustehen“, sagte sie. „Das ist nicht der erste Anschlag hier in Deutschland. Aber wir hoffen und beten dafür, dass es der letzte war.“ Und: „Alle Menschen sind gleich und haben es verdient, in einem Land ohne Angst zu leben.“ Dafür müsse noch viel getan werden, konstatiert sie jetzt. Seit dem 19. Februar „wurde viel geredet und wenig gehandelt“.
Said Nesar war der Jüngste, der während des Terroranschlags getötet wurde. Er wurde am 9. Juni 1998 in Hanau geboren und wuchs wie seine Geschwister hier auf. Nach dem Realschulabschluss machte er bei Goodyear Dunlop eine Ausbildung zum Maschinen- und Anlagenführer, arbeitete dort danach in Vollzeit und hätte bald seine Weiterbildung zum staatlich geprüften Techniker abschließen können. „Diese Möglichkeit wurde ihm genommen“, sagt Said Etris.
Als friedlichen, hilfsbereiten und herzlichen Menschen beschreiben ihn seine Verwandten und Freunde. Er „hatte immer ein offenes Ohr“ und lächelte viel, wie auf den Fotos zu sehen ist. „Wenn sich zwei stritten, ging er dazwischen und schlichtete“, blickt Said Etris zurück.
Said Nesar sollte in diesem Jahr Trauzeuge seines besten Freundes werden, mit dem er sich kurz vor dem 19. Februar für den Karneval in Nordrhein-Westfalen verabredet hatte. Der 21-Jährige war viel unterwegs, wollte dieses Jahr nach Berlin, eventuell nach Dubai, erzählt Najiba Hashemi, er war „ein offener Mensch, auch kulturell“. Said Nesar hatte viele Freunde; auch ihnen fehlt er sehr. Regelmäßig treffen sie sich nun auf dem Friedhof, denken an ihn, sprechen über gemeinsam Erlebtes. Oft sind es um die 15 Leute, die sich am Grab versammeln. Es fühle sich dann so an, als wäre Said Nesar da, haben sie gesagt. Wenn die Sehnsucht besonders groß ist, kommen sie auch in den Abend- und Nachtstunden.
Gedenken
Beim Terroranschlag am 19. Februar wurden Said Nesar Hashemi, Ferhat Unvar, Mercedes Kierpacz, Sedat Gürbüz, Gökhan Gültekin, Hamza Kurtovic, Kaloyan Velkov, Vili Viorel Paun und Fatih Saraçoglu aus rassistischen Motiven ermordet. Danach tötete der Täter offenbar seine Mutter und sich selbst. An diesem Mittwoch , sechs Monate nach der Tat, finden bundesweit in mehr als 30 Städten Gedenkveranstaltungen statt. Auf dem Hanauer Marktplatz ist für 16 bis 19 Uhr das Zusammenkommen geplant, das Gedenken beginnt um 19.02 Uhr. In Frankfurt geht es um 17.30 Uhr am Opernplatz und um 19 Uhr an der Hauptwache los. In Darmstadt lädt die interventionistische Linke Darmstadt zum antirassistischen Stadtspaziergang ein, der um 18.30 Uhr auf dem Kantplatz startet. Am Samstag , 22. August, werden Menschen aus ganz Deutschland zu einer großen Demonstration nach Hanau reisen. Beginn ist um 13 Uhr in Kesselstadt am Kurt-Schumacher-Platz. Das Motto lautet: Erinnerung – Gerechtigkeit – Aufklärung – Konsequenzen. gha Weitere Infos : www.19feb-hanau.org.
Die Eltern leben in ständiger Angst. Wenn ein Polizeiauto oder ein Rettungswagen zu hören ist, schrecken sie auf, berichtet Mir Salam Hashemi. „Wir haben unseren Sohn verloren. Und unser Vertrauen“, fügt Mutter Hashemi hinzu. Wenn die Kinder nicht da sind, rufen sie oft an, um zu hören, ob alles Okay ist. Täglich gehen die Eltern zum Friedhof, Najiba Hashemi holt auf dem Markt immer frische Blumen. Wenn sie mal verhindert sind, quält es sie. In Said Nesars Zimmer und an seinem Auto haben sie seit dem 19. Februar nichts verändert.
In der Nacht nach den Morden, erinnert sich Saida, „wurden wir hingehalten“. Quälend lange. Und offenbar ohne nachvollziehbaren Grund. Auf der Sterbeurkunde steht 22.10 Uhr als Todeszeitpunkt, ein Polizist teilte ihnen den Tod von Said Nesar aber erst gegen 6.30 Uhr mit, in dürren Worten. Den anderen Angehörigen, die in einer Turnhalle versammelt worden waren, ging es genauso.
In der Folgezeit erfuhren sie fast nichts, weder über die Todesumstände noch über irgendetwas anderes. Und erst nach acht Tagen konnten die Verwandten den Leichnam ihres geliebten Sohnes und Bruders sehen. „Das war sehr schwer, nicht auszuhalten“, erinnert sich Najiba Hashemi. Die Leiche war ohne ihr Wissen zur Obduktion beschlagnahmt worden. „Wir hätten es niemals erlaubt. Wozu auch? Es war nicht notwendig. Said Nesar wurde erschossen, das war eindeutig.“
„Die Opfer waren keine Fremden“, wurde nach der Tat betont. Aber manchmal zweifeln die Hashemis daran. Erst der Umgang mit dem Terroranschlag werde zeigen, ob alle gleich sind. Oder ob es Bürger erster und zweiter Klasse gibt.
Dass ein solcher rechtsextremer Anschlag in Hanau passiert, hätte die Familie nie gedacht. „Das ist eine multikulturelle Stadt“, ist Mir Salam Hashemi überzeugt. Said Etris und Said Nesar waren, wie andere Opfer, dem Jugendzentrum k.town eng verbunden, das nur wenige Meter vom Elternhaus des Attentäters entfernt liegt. „Es ist unser Treffpunkt, Ein Ort, an dem Vielfalt normal ist. Wo jeder so sein kann, wie er ist“, lobt Said Etris.
Ein paar Tage nach der Tat hat Hanaus Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) die Hashemis besucht und sich viel Zeit genommen. Danach habe die Stadt beispielsweise bei der Beerdigung geholfen. Dem Bund ist die Familie ebenfalls dankbar, auch weil Edgar Franke, der Opferbeauftragte der Bundesregierung, sie schnell kontaktierte und mehrmals in Hanau war.
Vom Land Hessen hingegen sind sie enttäuscht. Zwar erhielten sie Schreiben von Vertretern des Landes. Diese gingen aber offensichtlich nicht aktiv auf sie und andere Familien zu, verhielten sich passiv, halfen zu wenig, trotz der Nähe.
So hat Ministerpräsident Volker Bouffier (CDU) die Opferfamilien erstmals für den 26. August, mehr als sechs Monate danach, zu einem Empfang und längeren Gespräch eingeladen, was medienwirksam angekündigt wurde. Genauso wie das langfristige „Förderprogramm“ für die Betroffenen, das Innenminister Peter Beuth (CDU) vor ein paar Tagen versprach. Kritik wies er zurück.
Insgesamt mangelt es an Unterstützung. Die Betroffenen konnten auf das Angebot, eine Gesprächstherapie zu machen, zurückgreifen und erhielten finanzielle Soforthilfe. Doch angesichts der Lohnausfälle und der hohen Kosten, die sich aus dem Attentat ergeben haben, wird das Geld schnell knapp. Said Etris bekommt gerade einmal 280 Euro Krankengeld, sein Vater war praktisch Alleinverdiener und ist jetzt erkrankt. Viele Leistungen, etwa nach dem Opferentschädigungsgesetz, erfordern einen enormen bürokratischen Aufwand, sagt Saida, und viel Zeit, bis die Hilfe ankommt: „Es ist hart, dass man nach so einem Schicksalsschlag gleich aufstehen und viel Kraft investieren muss, damit man ein halbwegs normales Leben führen kann.“ Familie Hashemi wohnt ganz in der Nähe des zweiten Tatorts am Kurt-Schumacher-Platz. Wenn sie einkaufen gehen, müssen die Eltern und Kinder daran vorbei, seit sechs Monaten. Es ist unerträglich. Sie suchen dringend nach einer anderen Wohnung, weder Stadt noch Land konnten ihnen bislang eine geeignete vermitteln.
In den vergangenen Wochen hat Saida für ihr Lehramtsstudium gelernt und am Samstag ihr schriftliches Examen absolviert, trotz allem. „Said Nesar hat gesagt: Ich bin stolz darauf, dass du Lehrerin wirst.“ Daran hat sie oft gedacht und Kraft daraus geschöpft.
Ob sie Hanau verlassen wollen? „Ich liebe diese Stadt“, antwortet Saida, ohne zu zögern. Dass sich so viele Hanauer solidarisch mit ihrer Familie erklärten, habe sie bewegt. Said Etris fügt hinzu: „Hanau ist unsere Heimat. Auch mein Bruder hat diese Stadt geliebt. Das zeigte sich zum Beispiel darin, dass er die Ziffern 454, die Teil der Kesselstädter Postleitzahl sind, in seinem Autokennzeichen hatte.“
Die Eltern sagen, es war eine bewusste, klare Entscheidung, Said Nesar in Hanau, wo sein Zuhause ist, bestatten zu lassen, nicht in Afghanistan.
Wegzuziehen kommt nicht in Frage. Said Etris sagt mit Entschlossenheit und Selbstverständlichkeit in der Stimme: „Wenn wir gehen würden, hätten die Rechten gewonnen. Wir lassen uns unsere Stadt nicht nehmen.“