Es kommt nicht oft vor, dass Regierungskritiker bei Regierenden offene Türen einrennen. Am Dienstag passierte genau das. Am Vormittag überreichten Aktivisten des »Bündnisses Klinikrettung« dem parlamentarischen Staatssekretär im Bundesministerium für Gesundheit (BMG), Edgar Franke, eine Liste mit den Unterschriften von knapp 15.760 besorgten Bürgern, die so gegen das allgemeine Krankenhaussterben protestieren. Der SPD-Politiker nahm das Paket für seinen Chef und Parteifreund Karl Lauterbach entgegen, der sich sehr darüber gefreut haben müsste. Schließlich hatte er die besagte Petition Ende Mai 2021 selbst unterzeichnet. Noch besser: Nach seinem vollzogenen Karrieresprung vom einfachen Bundestagsabgeordneten zum BMG-Frontmann sollte es ihm ein leichtes sein, die Forderungen auch zu erfüllen.
Aber aller Anfang ist schwer. In seiner noch kurzen Amtszeit seien »schon mindestens zwei Krankenhausschließungen und drei Teilschließungen erfolgt«, gab Bündnissprecherin Laura Valentukeviciute am selben Tag gegenüber junge Welt zu bedenken. »Wenn Lauterbach nicht als Schaumschläger gelten möchte, muss er dringend handeln.« Wobei die Bilanz vorerst gar nicht so schlecht aussieht. 2020 waren schließlich 20 Hospitäler aus der Versorgungslandschaft verschwunden, 2021 dann nur neun, dazu bundesweit drei Dutzend Abteilungen wie Chirurgie, Inneres und Geburtshilfe. Irgendwie geht es also bergauf, also nicht mehr ganz so rasant bergab – so viel Rücksicht muss sein in einer Pandemie.
Zum Dank sangen die Aktivisten dem Minister gestern ein Liedchen vor dessen Berliner Dienstsitz, welches zur Nachahmung für Patienten empfohlen sei, »für die der Weg zum nächsten Krankenhaus zu lang wird«. Solche Erfahrungen machten nämlich »immer mehr Menschen in Deutschland immer häufiger, wenn die Empfehlung des Gemeinsamen Bundesausschusses, 700 weitere Krankenhäuser dicht zu machen, umgesetzt wird«, bemerkte Carl Waßmuth vom Verein »Gemeingut in BürgerInnenhand« (GiB), der das »Bündnis Klinikrettung« trägt. Der Bundesausschuss ist das höchste Gremium der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen, und dessen Vorsitzender Josef Hecken hatte vor einen halben Jahr geäußert: »Wir haben zur Zeit 1.900 Krankenhäuser, 1.200 wären genug.«
Im Juni 2019 war Lauterbach noch derselben Ansicht, damals verbreitete er via Twitter: »Jeder weiß, dass wir in Deutschland mindestens jede dritte, eigentlich jede zweite Klinik schließen sollten«. Aber das war lange vor seiner Läuterung. Jetzt überhört er nicht länger Warnungen wie die von Anke Görtz, einst Röntgenassistentin im Klinikum Havelberg in Sachen-Anhalt, das 2020 geschlossen wurde. »Vor wenigen Wochen starb ein Mensch am Herzinfarkt, weil der Rettungswagen aus dem weiter entfernt gelegenen Krankenhaus zu lange brauchte«, schilderte sie. Der Fall zeige »in aller Klarheit: Krankenhausschließungen sind politisch nicht vertretbar, denn sie kosten Leben.« Karl Lauterbach hat verstanden – bestimmt.