Die Zeiten, in denen die ganze Aufmerksamkeit den Tätern galt, sind vorüber. Heute steht das Schicksal der Opfer stärker im Vordergrund. Aber Bund und Länder müssen noch mehr für sie tun. Ein Gastbeitrag.
Noch immer bin ich oft in Hanau. Dieser bunten Stadt, die den 19. Februar 2020 nie vergessen wird. Neun Hanauerinnen und Hanauer wurden Opfer eines rassistischen Terroranschlags. Auch seine Mutter tötete der Täter. Viele Menschen wurden verletzt, erschüttert, traumatisiert. Als Opferbeauftragter der Bundesregierung betreue ich die Menschen, deren Leben sich dramatisch verändert hat.
Viele Betroffene kämpfen sich mit großer Kraft zurück ins Leben. Wir dürfen sie dabei nicht alleinlassen. Der Staat muss Verantwortung für die Opfer übernehmen.
Vor gut zwei Jahren hat die Bundesregierung das Amt des Beauftragten für Terroropfer geschaffen. Das war ein dringend notwendiger Schritt nach den Erfahrungen des Attentats auf dem Berliner Breitscheidplatz, bei dem zwölf Menschen ihr Leben verloren. Inzwischen haben die allermeisten Bundesländer ihre Opferhilfe ebenfalls verstärkt.
Die Zeiten sind vorbei, in denen die Täter alle Aufmerksamkeit auf sich zogen und es allein – wie bei „Aktenzeichen XY“ – um die Strafverfolgung ging. Heute steht das Schicksal der Opfer stärker im Vordergrund.
Kaum etwas erschüttert das Vertrauen in einen funktionierenden Staat so sehr wie ein Terroranschlag. Das zeigt die Vergangenheit – und das erlebe ich in vielen Gesprächen mit Betroffenen. So haben mir Angehörige der Opfer des Anschlags in Hanau gesagt, dass sie ihr Vertrauen in die staatlichen Akteure verloren haben. Manche fühlten sich von den Behörden zu wenig informiert und teilweise schlecht behandelt.
Terroranschläge müssen anders behandelt werden als andere Verbrechen. Rassistische oder antisemitische Hass-Verbrechen wie in Halle und Hanau richten sich gegen unsere offene und vielfältige Gesellschaft. Die Täter greifen die Opfer stellvertretend für all das an, was unsere Demokratie ausmacht. Was bleibt, ist die tiefe Angst vor neuen Attacken. Was bleibt, ist das Misstrauen, das entsteht, weil der Staat die Opfer nicht schützen konnte.
Deshalb ist es so wichtig, dass die Betroffenen so gut und so früh wie möglich informiert und unterstützt werden. Die Betroffenen müssen die Hintergründe der Tat kennen. Nur so haben sie überhaupt eine Chance, das Geschehene zu verarbeiten. Das gilt besonders dann, wenn keine Gerichtsverhandlung stattfindet, bei der die Angehörigen Fragen stellen können. Wenn der Täter tot ist, gibt es keinen Prozess. Umso mehr ist es eine gesellschaftliche und politische Aufgabe, die Tat aufzuarbeiten.
Die Opfer brauchen psychologische, soziale und finanzielle Unterstützung unmittelbar nach der Tat. Mit Soforthilfen allein des Bundes in Höhe von bislang 1,2 Millionen Euro konnten wir den Hinterbliebenen und Verletzten in Hanau helfen. Das war nur möglich, weil die Hilfen für Hinterbliebene im Jahr 2018 verdreifacht wurden. Die bundesweite Einrichtung von Trauma-Ambulanzen ist Teil des Ende 2019 beschlossenen neuen Sozialen Entschädigungsrechts, mit dem Gewaltopfer in Zukunft dauerhaft besser finanziell unterstützt werden.
Wirtschaftlich Betroffene von terroristischen und extremistischen Taten erhalten nun, rückwirkend für Taten in den vergangenen beiden Jahren, ebenfalls finanzielle Unterstützung. Die entsprechende Richtlinie hat das Bundesjustizministerium jetzt geändert. So können wir den Betroffenen in Halle und Hanau auch in dieser Hinsicht helfen.
Rechtsextremisten bedrohen all jene, die für die Demokratie einstehen. Das sind ganz häufig Kommunalpolitiker in Gemeindevertretungen, Bürgermeister und Landräte. Der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke steht uns allen vor Augen. Drohungen sind für viele, die sich politisch engagieren, beinahe Alltag geworden. Es haben sich Bürgermeister an mich gewandt, die um ihre Familien fürchten.
Bund und Länder müssen mehr tun, um Demokraten zu schützen: durch hohe Wachsamkeit und mehr Einsatz der Sicherheitsbehörden ebenso wie durch finanzielle Unterstützung der Betroffenen. Wenn wir Einbruchsschutz aus guten Gründen staatlich fördern, müssen wir Schutzmaßnahmen gegen Angriffe auf engagierte Demokraten erst recht stärker finanzieren.
Der konsequente Schutz von Menschen, die von Neonazis bedroht und angegriffen werden, ist ein Kernthema im Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus unter der Leitung von Bundeskanzlerin Angela Merkel. Dieser neue Ausschuss ist eine Reaktion auf den Anschlag in Hanau – und ein echter Wendepunkt. Endlich hat der Schutz unserer offenen und vielfältigen Gesellschaft höchste politische Priorität.